Die Kolpingjugend im Kolpingwerk Deutschland ruft die neu gewählte Bundesregierung auf, entschlossen für eine Vertiefung der europäischen Integration einzutreten. Dabei dürfen die bisherigen Ideen und Initiativen nicht nur dazu dienen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union (EU) zu stärken. Diese ist ein Erfolgsmodell, das dazu beigetragen hat, den individuellen Wohlstand vieler Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Bei Millionen von Menschen ist dieses Erfolgsversprechen aber aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht angekommen. Um dies zu ändern muss die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Sozialunion weiterentwickelt werden, die durch die Schaffung gemeinsamer und verbindlicher Standards auf Herausforderungen reagiert, die insbesondere die jüngere Generation betreffen. Es ist an der Zeit, den sozialen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedsstaaten der EU zu stärken. Denn aus christlicher Überzeugung ist es fatal, die soziale Frage Europas zu ignorieren. (1)

Wachstum nicht ohne Gemeinsinn
Europa muss auch weiterhin im internationalen Vergleich mit den anderen großen Wirtschaftsräumen wettbewerbsfähig sein. Dies darf aber nicht auf Kosten sozialer Standards geschehen. Das Prinzip der sozialen Markwirtschaft, welches auf den Grundlagen der katholischen Soziallehre aufbaut, ist für die Kolpingjugend ein wichtiger Maßstab, und deswegen soll dies in Europa gefördert werden. Dazu gehören vor allem sozialverträgliche Beschäftigungsverhältnisse für Jung und Alt. Bei Löhnen darf es kein "Race to the Bottom" geben - nicht innerhalb bestimmter Branchen und erst recht nicht zwischen West- und Ost-, Nord- und Südeuropa. Die Einhaltung sozialer und arbeitsrechtlicher Standards (2) muss auch im Handel mit Drittstaaten eingehalten werden. Als Mindestvoraussetzung für Freihandelsabkommen mit Nicht-EU-Ländern müssen die vergleichsweise hohen europäischen Standards geschützt werden und die staatliche Rechtsprechung darf nicht ausgehöhlt werden.

Zu einem Binnenmarkt, der die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellt, muss auch die entschiedene Bekämpfung von Steuerdumping und Steuervermeidung gehören. Multinationale Unternehmen, wie z.B. die großen Internetkonzerne, dürfen keine Sonderkonzessionen erhalten, wenn es darum geht, Steuern zu entrichten. Denn dadurch fehlen Steuergelder, die der Förderung von Bildung und sozialem Zusammenhalt zugutekommen könnten. Auch Finanzmarktspekulationen, die z.B. durch Wetten auf Aktienkurse, Rohstoffe und Nahrungsmittel zu Lasten des Allgemeinwohls gehen, müssen eingedämmt werden. Dazu ist die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer dringend erforderlich.

Die Europäische Säule sozialer Rechte kann nur ein erster Schritt sein
Die EU braucht neben ihrem ökonomischen auch ein soziales Fundament. Dies bedeutet keine Gleichmacherei von Sozialstandards und Arbeitsbedingungen bis ins kleinste Detail. Es bedarf aber eines gemeinsamen Rahmens, in dem verbindende und verbindliche Mindeststandards festgelegt sind.

Auf ihrem Sozialgipfel im November 2017 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf eine Europäische Säule sozialer Rechte verständigt. In drei Kapiteln mit insgesamt 20 Grundsätzen haben sie sich darin auf gemeinsame Leitlinien im Hinblick auf "Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang", "Faire Arbeitsbedingungen" sowie "Sozialschutz und soziale Inklusion" verständigt. (3)

Die Kolpingjugend fordert die politischen Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger in Berlin und den anderen europäischen Regierungen auf, die soziale Dimension der EU nicht nur als unverbindliche Übereinkunft zu betrachten, sondern sie mit Leben zu füllen, indem sie konkrete Projekte und Initiativen anstößt. Dabei sollte die EU besonders folgende Herausforderungen stärker zur Aufgabe gemeinsamen Handelns machen:

Kinder- und Jugendarmut
EU-weit sind Kinder und Jugendliche von Armut und sozialer Ausgrenzung deutlich stärker betroffen als Ältere. Etwa 25 Millionen Kinder und Jugendliche waren nach Angaben des Europäischen Statistikamtes im Jahr 2015 von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies macht fast 27% aller EU-Einwohner unter 18 Jahren aus und trifft bei weitem nicht nur auf die Länder im Süden und Osten der EU zu.(4)

Chancengleichheit
Millionen von jungen Europäerinnen und Europäern bleibt der Zugang zu ihrer Persönlichkeit passender Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe verwehrt. Kinder aus sozial benachteiligten Schichten sowie Kinder mit Migrationshintergrund sind davon besonders stark betroffen. Durch die von der EU formulierte Jugendstrategie ist es bisher nicht gelungen, sozial- und bildungsschwachen Jugendlichen ausreichende Möglichkeiten zu eröffnen, damit sie in gleichem Maße an Bildung teilnehmen und den europaweiten Austausch im Rahmen der Programme von ERASMUS+ nutzen können.

Jugendarbeitslosigkeit
Die hohe Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vor allem in Süd- und teilweise Osteuropa, ist auch fast zehn Jahre nach der globalen Finanzkrise eine der drängendsten Herausforderungen Europas. Noch immer sind fast 3,7 Millionen Europäerinnen und Europäer unter 25 Jahren ohne Beschäftigung. (5) Die EU hat zwar im Rahmen der "Jugendgarantie" Verbesserungen angestoßen. Diese sieht vor, dass junge Menschen bis 25 Jahre vier Monate nach Beendigung ihrer Schule oder Ausbildung einen hochwertigen Ausbildungsplatz bzw. Arbeitsstelle oder Praktikum bekommen. Dennoch sind teilweise sogar mehr als ein Drittel aller unter 25-Jährigen in Italien, Spanien und Griechenland erwerbslos.

Faire Arbeitsbedingungen
Selbst in Staaten mit guter wirtschaftlicher Ausgangslage befinden sich viele junge Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dies drückt sich beispielsweise in befristeten Arbeitsverträgen, niedrigen Löhnen und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung aus. In der Folge gibt es junge Menschen, die trotz einer Beschäftigung armutsgefährdet sind. Damit steigt die Zahl der sog. "Working Poor" (Menschen, die trotz Arbeit arm sind).

Arbeitswelt 4.0
Die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt sind in allen Mitgliedsstaaten präsent und bergen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Vorteile, aber auch Nachteile. Ständige Erreichbarkeit, größtmögliche Flexibilität und die Beschleunigung von Arbeitsprozessen sind Begleiterscheinungen. In einem immer stärker vernetzten Europa sind die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten nirgends so sehr verwischt, wie im digitalen Raum. Dies hat besondere Auswirkungen auf das Arbeits- und Privatleben junger Menschen, da sie häufiger in digitalisierten Berufen tätig sind.

Damit substantielle Fortschritte auf dem Weg zu einer Sozialunion gelingen, fordern wir:

  • die Einführung einer „EU-Steuer“, die sich aus den Einnahmen einer in allen Mitgliedsstaaten erhobenen Finanztransaktionssteuer speist; mit dieser Steuer sollen schädliche Spekulationen im Aktienhandel eingedämmt werden; die Einkünfte aus dieser Steuer dienen besonders dazu, den sozialen Zusammenhalt in Europa zu steigern und die Erhöhung des Lebensstandards in Entwicklungsländern (6) zu fördern
  • die Auflegung eines Jugendbeschäftigungsfonds, der die Mitgliedsstaaten finanziell dabei unterstützt, die EU-Jugendgarantie umzusetzen; auf diesem Weg lässt sich der Anspruch umsetzen, dass junge Menschen nach Beendigung ihrer Schule oder Ausbildung innerhalb von vier Monaten eine angemessene Arbeitsstelle, Weiter- und Ausbildung oder einen Praktikumsplatz erhalten; dies darf allerdings nicht zu einer Verkettung von Praktika führen
  • die Gründung eines Europäischen Währungsfonds, der Mitgliedsstaaten in konjunkturellen Krisen (7) finanziell unter die Arme greift, sodass diese Staaten nicht gezwungen sind, ihre Sozialsysteme und Bildungseinrichtungen zu beschneiden; über die Vergabe von finanziellen Mitteln sollte das Europäische Parlament entscheiden
  • eine verbindliche Verankerung der Europäischen Säule sozialer Rechte im Vertragswerk (Primärrecht) der EU sowie eine Aufnahme der 20 Grundsätze in das sog. Europäische Semester; dadurch sollen zukünftig neben z.B. haushaltspolitischen Reformen auch sozialpolitische Fortschritte von den EU-Institutionen regelmäßig begutachtet und Verbesserungsvorschläge von Seiten der Europäischen Kommission veröffentlicht werden
  • ein Fortsetzungsprogramm der EU-Jugendstrategie, die Ende 2018 ausläuft; diese muss sich stärker die Einbeziehung sozial- und bildungsschwacher Jugendlicher zum Ziel setzen, damit alle jungen Menschen gleiche Chancen im Hinblick auf Teilhabe an Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Besonderen sowie am gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen erhalten; dazu müssen Jugendverbände mit ihrer Fachkenntnis eng eingebunden werden
  • den finanziellen Ausbau von "ERASMUS+ - Programm für Bildung, Jugend und Sport" mit dem Ziel, allen jungen Menschen den grenzüberschreitenden Austausch im Rahmen von Ausbildung, Studium, Praktikum oder Ehrenamt zu ermöglichen; die in ERASMUS+ integrierten Programme müssen benachteiligten Jugendlichen, aber auch Jugendverbänden leichter beziehungsweise unbürokratischer zugänglich gemacht werden
  • die Einführung europäischer Mindeststandards bei Löhnen, die sich je nach nationaler Leistungskraft bemessen; damit soll gewährleistet sein, dass alle Menschen in Vollzeitbeschäftigung sich und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen können; durch eine verbindliche Untergrenze kann Sozialdumping Einhalt geboten und die Entstehung prekärer Beschäftigungsverhältnisse eingedämmt werden
  • die Betonung der sozialen Dimension in den strategischen Rahmenbedingungen zum digitalen Binnenmarkt der EU; dazu bedarf es einer offenen Diskussion in Politik und Gesellschaft zu den von Digitalisierung betroffenen Themen, wie gerechte Arbeitsbedingungen, lebenslanges Lernen und gesellschaftliche Teilhabe

Am Gelingen einer Europäischen Sozialunion wird sich der langfristige Erfolg der EU messen. Denn ein gemeinsamer Markt ohne gemeinsame Standards für soziale Sicherheit, Arbeitsschutz und Bildung birgt große Risiken für das gesamtgesellschaftliche Wohlbefinden in sich. Die EU wird genauso wenig wie ihre einzelnen Mitgliedsstaaten ein Raum vollkommener Gleichheit werden. Gleichheit von Chancen und Perspektiven für Jung und Alt sind aber unerlässlich, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa zu stärken. Dabei verweist die Kolpingjugend insbesondere auch auf die christlichen Wurzeln des europäischen Einigungsprozesses.

Nach Ansicht der Kolpingjugend müssen in einem sozialen Europa die Prinzipien der katholischen Soziallehre aktiv gelebt werden. Eine Europäische Union, die auf den Prinzipien von Personalität, Solidarität und Subsidiarität aufbaut, muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dies bedingt, dass sich der Mensch frei entfalten kann; aber auch dort, wo er Hilfe zur Selbsthilfe braucht, in einer Solidargemeinschaft unterstützt und gefördert wird. So kann Europa als ein Raum des Teilens und der wechselseitigen Bereicherung gelingen.

„Person und Gemeinschaft sind also die Fundamente des Europas, zu dessen Aufbau wir als Christen beitragen wollen und können. Die Mauersteine dieses Baus heißen: Dialog, Inklusion, Solidarität, Entwicklung und Frieden.“ (8) 

(1) „Die christliche Liebe drängt uns dazu, Missstände anzuprangern, Vorschläge zu unterbreiten und uns zu engagieren für eine kulturelle und soziale Entwicklung, sie drängt uns zu einer effektiven Tatkraft, die alle, denen das Schicksal des Menschen aufrichtig am Herzen liegt, dazu anspornt, einen eigenen Beitrag zu leisten.“ (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i. Br. 2006, Nr.6.)

(2) Beispiel Transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP): Die USA haben nur zwei von acht Kernarbeitsnormen der internationalen Arbeitsorganisationen (ILO) ratifiziert.

(3) Die Europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen dargestellt.

(4) Eurostat Pressemitteilung vom 16.11.2016.

(5) Eurostat Pressemitteilung vom 09.01.2018

(6) „Sammelbezeichnung für Länder, die gegenüber den Industriestaaten in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht wesentlich schlechter dastehen. […] Hauptmerkmale: Großer landwirtschaftlicher Sektor, wirtschaftlich-technische Rückständigkeit, niedrige Wirtschaftsleistung und Armut, zugleich hohes Bevölkerungswachstum und z.T. Unterernährung und Hunger.“ (Bundeszentrale für politische Bildung, online verfügbar hier.)

(7) Eine konjunkturelle Krise ist eine Phase, die infolge eines wirtschaftlichen Abschwungs in einer Volkswirtschaft entsteht und in der Regel von einem Nachfragerückgang und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist.

(8) Rede von Papst Franziskus anlässlich des Kongresses Rethinking Europe am 28.10.2017 in Rom